Immer wieder sehen wir Hunde mit einer „Schuppenfraktur“ am Reißzahn. Teilweise finden wir sie bei Routineuntersuchungen, zum Beispiel vor einer Impfung, oder die Besitzer kommen, weil der Hund irgendwelche Symptome hat. Diese können von sehr unterschiedlicher Natur sein, von Kopfscheue über schlecht Fressen oder Futter fällt aus dem Maul bis zu nicht mehr richtig Zufassen beim Gebrauchs- oder Diensthund. Aber auch Tiere mit Schwellungen, Verdacht auf einen Tumor oder einem Abszeß, typischerweise direkt unterm Auge, werden vorgestellt. Als Ursache findet man dann häufig einen abgerochenen Oberkieferreißzahn. Nur warum immer wieder dieser Zahn und nicht einer davor oder danach? Und warum eigentlich immer in derselben Art und Weise? Nur die Ausprägung variiert von unkomplizierter bis zur komplizierter Kronenfraktur. Also mal ohne Eröffnung der Pulpahöhle und mal mit. Wenn die Pulpahöhle eröffnet ist liegt der Nerv frei! Das MUSS weh tun! Und gerade dieser Zahn sieht so stabil aus!
Diese Fragen haben nicht nur wir uns gestellt, sondern auch ein Team von verschiedenen Forschern (Soltero-Rivera et al.), die dazu verschiedene (in vitro) Untersuchungen durchgeführt haben. Sie gingen der Frage nach, welche Kräfte eigentlich auftreten müssen, damit solche typischen Frakturen am vierten Prämolaren erzeugt werden können. Und sie wurden fündig. Veröffentlicht haben sie die Ergebnisse dann 2019 im Frontiers in Veterinary Science.
Wir haben versucht die Ergebnisse leicht verständlich in unserer Zeichnung zu veranschaulichen.
Der vierte Prämolare sieht von der Seite ein klein wenig aus, wie eine Krone mit zwei mehr oder weniger stark ausgeprägten Höckern. Dabei ist der vordere Höcker der größere. Auf diesen wurde im Versuch die Kraft ausgeübt und zwar in einem Winkel, der auch vorliegt, wenn der Hund auf etwas hartem kaut. Das Forscherteam konnten mit seinem Versuchsaufbau genau die Frakturen erzeugen, die wir in der Praxis zu Gesicht bekommen! Die Kraft, die auf den Zahn einwirken muss, um ihn zum Brechen zu bringen, betrug 1.281N (+/-403N) bei einem Winkel von 59,7° (+/-5,2). Dabei spielte das Alter, die Rasse, das Gewicht und die Höhe der Krone (der sichtbare Anteil vom Zahn) oder der Kronendurchmesser keine Rolle. Lediglich das Verhältnis der Kronenhöhe zum Durchmesser hatte Einfluß auf die Stabilität gegenüber Kronenfrakturen.
1.281N, was kann man sich darunter vorstellen? Hier ein etwas anschaulicheres Beispiel, was man sich unter dieser Kraft vorstellen kann. Die Kraft ist vergleichbar mit der Wucht, die entsteht, wenn ein ca. 65kg schwerer Mensch beim Klettern 2m abrutscht und ins Sicherungsseil fällt. Oder, wer lieber ein Beispiel mit Bier hätte: Das entspricht in etwa der Kraft, die man aufbringen muss, um 7 Kästen Bier anzuheben (Weißbier oder Helles, ganz nach Geschmack).
Wahnsinn, oder was so ein Zahn aushält!
Und was bedeutet das nun für den Alltag mit Hund?
Vorsicht ist geboten beim Kauen von harten Gegenständen wie:
- Knochen
- Kuhklauen
- Geweihe
- Hartes Nylon
- Eiswürfel
- Steine
- Holz
Als Faustregel kann man sagen:
- Solange man noch einen Fingerabdruck machen kann und/oder es verbiegen kann ist es weich genug, um nicht zu einer Zahnfraktur zu führen!
- Und nicht alles, was im „Fachhandel“ angeboten wird ist auch wirklich gut für den Hund!
- Besser, effektiver und auch wesentlich ungefährlicher für die Zahnpflege ist das Zähneputzen! Aber dazu später mehr. Bis wir selbst etwas entsprechendes „produziert“ haben hier ein Link zu einem Video aus der Tierklinik Oberhaching: